Themenfeld 3: Recht und Gemeinschaft. Zur Vielfalt globaler Familienrechtskulturen und Gemeinschaftsformen (2020-2022)

Das Verhältnis von Recht zur Gemeinschaft ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis beider Sphären: Ohne über eine Rechtsgemeinschaft als Sanktions- und Bindungshintergrund zu verfügen, laufen normative Projektionen der professionellen Rechtswahrer ins Leere, und ohne eine rechtliche Durchdringung und Verdichtung bleiben die „imagined communities“ (Benedict Anderson) nur als Vorstellungsgemeinschaft von Belang, nicht aber als eine das soziale Leben gestaltende Kraft. Rechtsgemeinschaften sind – mit Max Weber – als „Einverständnisgemeinschaften“ zu fassen, die durch einen „Gemeinsamkeitsglauben“ zusammengehalten werden. Und erst durch einen solchen Gemeinschaftsbezug werden auch die Spannungen, die in den Theorien des legal pluralism als Widersprüche normativer Ordnungen auftreten, so brisant, stehen doch hinter den religiösen, indigenen, lokalen und regionalen Eigenansprüche behauptenden normativen Ordnungen jeweils soziale Gemeinschaften, die in ein konflikthaftes Verhältnis geraten können und damit übergreifende Rechtsbindungen und nicht zuletzt eine oft beschworene und rechtlich auch positivierte universale ‚Menschenrechtskultur‘ fragil werden lassen.
Die normativen, aber eben auch emotional-affektiven Grenzen universalistischer Gemeinschaftsbildung geben auch die Grenzen einer das Leben der Rechtsgenossen prägenden Rechtsgemeinschaft wieder. Was Tönnies die „Gemeinschaft des Blutes“ genannt hatte, rückt gerade durch die Ablösung von primordialen Bindungskräften ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Familienrecht wird zum Spiegel gewandelter Familienformen und Familienideale, des Lebens in einer Gemeinschaft, die durch soziale Nähe und emotionale Verstrickungen geprägt ist. So gilt auch in Zeiten der Globalisierung und einer damit einhergehenden Pluralisierung von Gemeinschaftsformen die Familie weiterhin als der zentrale gesellschaftliche Ort, an dem normative Ressourcen einer Gesellschaft produziert werden. Familie ist außerdem der Adressat von Grundordnungen der Verteilung der Güter und wechselseitiger Pflichtzusammenhänge, die aus diesem Grunde auch immer wieder als realer oder imaginärer Ausgangspunkt der Normprojektübertragung, von der familialen Einheit auf die Gesamtgesellschaft, angesehen werden. Das Prinzip der familiären Solidarität, das heute weit über den römischrechtlichen Begriff des solidum, der gesamtschuldnerischen Haftung, hinausgeht, findet in einer Vielzahl von Rechtsordnungen seinen normativen Niederschlag.
Gerade mit Blick auf menschenrechtliche Bestimmungen zeigt sich dabei, welcher normative Wandel mit dem Wandel der Familienvorstellungen und -praktiken einhergeht. Die freie Partnerwahl, das Verbot der Diskriminierung wegen sexueller Orientierungen, die Gleichheit der Geschlechter, Gleichstellungspostulate im Unterhalts- oder Güterrecht und die Gewährleistung der Freiheit der Eheschließung mit den Verboten von Zwangs- und Kinderehen zeigen eine Nachführung menschenrechtlicher Standards an kulturelle Wandlungsprozesse auf, die nicht zuletzt die Autonomie des Individuums in vielen Fällen aufwerten. Auch der Bereich der modernen Reproduktionsmedizin, der einen enormen Einfluss auf das Verständnis von Personalität, Familie und Verwandtschaft hat, erfährt zunehmend eine menschenrechtliche Vorprägung, auch wenn manche internationalen Gerichte (wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte) hier noch auf nationale Gestaltungsoptionen („margin of appreciation“) im Sinne rechtkultureller Vielfalt Rücksicht nehmen.  
Die Pluralisierung der Familienformen stellt hierbei nicht nur die quasi-biologische Erklärung von Familie und deren naturalistische Implikationen in Zweifel, sondern ist als Ausdruck einer sozialen Transformation von Gesellschaft und deren normativen Grundlagen insgesamt zu betrachten, die wiederum als Ausgangspunkt für den Kulturvergleich herangezogen werden können. Nirgendwo scheint dabei die Konstruktion des „Anderen“ so tief in den Anschauungen und Überzeugungen des Erinnerungen und Zukünfte prägenden kollektiven Gedächtnisses verankert zu sein wie in der Familie. Gewiss ist nämlich, dass ‚Familie‘ und der Streit darüber, was ihren Charakter normativ ausmacht, eine Art universelle ‚Kulturbedeutung‘ besitzen, damit aber auch Geltungskulturkonflikte auslösen, wie sich etwa im Zusammenhang mit islamischen Ehe- und Familienvorstellungen zeigen lässt. Dabei ermöglicht und erfordert das internationale Familienrecht auf dem Wege des Kollisionsrechts die Anwendung des Rechts der Anderen. Im europäischen Rechtsraum verknüpft der Grundsatz der Parteiautonomie die traditionell im Bereich des Familien- und Erbrechts konkurrierenden Anknüpfungen an die Prinzipien von Staatsangehörigkeit und Aufenthalt, die jede für sich rechtskultureller Bindung und Integrationsinteresse nur unzureichend gerecht zu werden vermögen. Die Freiheit der Rechtswahl auf diese beiden Rechtsordnungen zu begrenzen, bedarf angesichts zunehmender Migrationsströme und aktuell vor allem der Flüchtlingszuwanderung der Überprüfung, setzen doch innerhalb der Europäischen Union in Verstärkung des ordre public bereits spezielle Vorbehaltsklauseln gerade drittstaatlichem Recht Grenzen, wie etwa die der Rom III-Verordnung, die sicherstellen sollen, dass das anwendbare Scheidungsrecht mit den „gemeinsamen Werten der Europäischen Union vereinbar“ ist.
Eine weitere Vergleichsebene gewinnt das Themenfeld, wenn man neben klassischen Familienformen weitere Gemeinschaftsformen und ihre jeweilige Bindung an geltendes Recht in den Blick nimmt: traditionale lokale Nachbarschaftsgemeinschaften mit ihren vielfältigen mündlich tradierten Rechtsansprüchen, moderne Clanstrukturen und schließlich „posttraditionale Gemeinschaften“ gegenwärtiger Subkulturen. In all diesen Gemeinschaftsformen bilden sich Systeme sozialer Normen aus, die in einem Spannungsverhältnis zum staatlichen Recht stehen können. Die für das Kolleg zentralen Leitfragen werden hier erneut virulent: In welchem – möglicherweise konfliktiven – Verhältnis stehen partikulare und universelle Geltungsansprüche sich hier gegenüber? In welchem Umfang akzeptieren entsprechende Gemeinschaften geltendes Recht, und: Inwiefern geht diese Akzeptanz zugleich mit Versuchen einher, dieses Recht mit eigenen Normvorstellungen pragmatisch in Einklang zu bringen oder letzteren gar über die eigenen Gruppengrenzen hinaus Geltung zu verschaffen?